Meinung

Europawahl: Warum Meloni, Orbán und Co. ihre Strategie verändert haben

Bei der Europawahl am 9. Juni droht ein Rekordergebnis für rechtspopulistische Parteien. Das hat auch mit einem Kurswechsel der extremen Rechten zu tun, analysiert Ernst Hillebrand von der Friedrich-Ebert-Stiftung.

von Ernst Hillebrand · 21. Mai 2024
Im Vorfeld der Europawahl: Aktivist*innen protestieren in Madrid gegen die Rechtspopulist*innen Marine Le Pen, Mateusz Morawiecki, Santiago Abascal, Viktor Orbán und Giorgia Meloni.

Im Vorfeld der Europawahl: Aktivist*innen protestieren in Madrid gegen die Rechtspopulist*innen Marine Le Pen, Mateusz Morawiecki, Santiago Abascal, Viktor Orbán und Giorgia Meloni.

In wenigen Wochen finden die Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Umfragen sagen rechtspopulistischen und EU-skeptischen Parteien deutliche Gewinne voraus. Möglicherweise öffnet sich in Straßburg und Brüssel sogar ein Fenster für eine Teilhabe an neuen politischen Mehrheitskonstellationen. Damit stellt sich nicht zuletzt die Frage, wie und auf welche Art diese Parteien tatsächlich „europafeindlich“ sind. Denn sie selbst präsentieren sich mittlerweile durchaus anders: Nicht als Gegner*innen, sondern als Verteidiger*innen Europas. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán twittert gerne mal unter dem Hashtag MEGA – Make Europe Great Again.

Meloni als Vorbild

Diese Entwicklung hat zwei Hauptursachen. Eine ist banal und wahltaktisch begründet: Rechtspopulist*innen und Nationalkonservative in ganz Europa haben verstanden, dass sich überzogene EU-Kritik und Dauerkonflikte mit den Brüsseler Institutionen an der Wahlurne nicht auszahlen. Weder hat Marine Le Pen mit ihrer Ansage, aus dem Euro aussteigen zu wollen, die französischen Präsidentschaftswahlen gewonnen noch Jarosław Kaczyński mit seiner obsessiven EU-Kritik die polnischen Parlamentswahlen. Das neue Leitbild ist daher Giorgia Meloni, die die EU nicht verlassen, sondern politisch kapern und von innen heraus verändern möchte: If you can’t beat them, join them.

Zum anderen hat sich die Ideologie des Rechtspopulismus verändert. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama wies in seinem Buch Identity schon 2018 darauf hin, dass die identitätspolitische Orientierung der Linken – mit ihrer Betonung der Rechte von Minderheiten – ein Vertretungs- und Anerkennungsdefizit bei der Mehrheitsbevölkerung zu schaffen droht. Der Rechtspopulismus ist mit Wucht in diese Lücke gestoßen. Er bedient sich der Konzepte linker Identitätspolitik, verändert aber deren Argumentationsrichtung: Anstatt die Rechte von Minderheiten zu betonen, bekräftigt er das Recht der Mehrheiten auf Anerkennung, Respekt und Bewahrung ihrer kulturellen Identität. Konsequenterweise bedeutet dies, dass er sich damit nicht nur als Verteidiger traditioneller nationaler Identitäten stilisiert, sondern auch als Verteidiger des historischen Westens und seiner Institutionen.

Rechte sehen sich als Verteidiger eines idealisierten Westens

Dieser idealisierte Westen – dessen historischer Kern Europa ist – ruht, so die Argumentation des Rechtspopulismus, auf drei institutionellen Säulen: der Nation, der „natürlichen Familie“ als Kern der Gesellschaft und auf dem Christentum. Europa ist historisch zu dem geworden, was es lange war – ein zivilisatorisches Vorbild und technisch-wissenschaftliches Kraftzentrum der Welt –, weil es mit den Nationen handlungsfähige politische Gemeinschaften herausgebildet hat, die die kulturellen Identitäten der Völker gebündelt und repräsentiert hätten. „Die Nation“ so Viktor Orbán, „ist die große Erfindung des Westens. Sie ist das Herz der freien Welt.“

Die zweite Säule ist die „natürliche Familie“ aus Frau, Mann und Kind(ern). In dieser Grundeinheit der Gesellschaft finden die wesentlichen kulturellen und emotionalen Prägungen der Menschen statt (was sie, so das Argument, für den auf ideologische Umprogrammierung ausgerichteten Liberalismus zum besonderen Ärgernis macht). Die Aufgabe des Staates sei es, die Familie zu erhalten und zu schützen und es den Menschen zu ermöglichen, Kinder zu haben und zu erziehen.

Drittens: Mit der Hinwendung zu einem identitätsorientierten Diskurs ist auch der Bezug auf das Christentum stärker geworden. Dieser Bezug hat natürlich einen Subtext: den Vorwurf, dass der moderne Liberalismus, aber auch die islamische Einwanderung dieses Fundament der westlichen Welt bedroht. Die Wurzeln im Christentum (aber auch im Hellenismus) unterscheiden den Westen, so Giorgia Meloni in einem Interview, vom Rest der Welt: „Wir im Westen glauben, dass diese Prinzipien – Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Recht, die Begegnung von Vernunft und Transzendenz – universell sind, aber wenn wir uns umsehen, müssen wir zugeben, dass dies nicht so ist, dass diese Werte für die Kultur eines bestimmten Teils der Welt charakteristisch sind. Es ist unsere Identität als Europäer und Westler, als Kinder der klassischen und jüdisch-christlichen Kultur.“

Orbán inszeniert sich als Verteidiger der Demokratie

Und natürlich reklamiert der Populismus auch die Demokratie für sich. Denn ein ganz wesentlicher Aspekt dieses christlichen Westens, so die Argumentation weiter, ist sein demokratischer Charakter: Die Demokratie ist im Westen entstanden und nirgendwo sonst. Sie konnte entstehen, weil das Christentum die grundsätzliche Gleichheit der Menschen vor Gott stipuliert. „Die liberale Demokratie hätte ohne ihr christliches kulturelles Fundament niemals entstehen können“, so beispielsweise Viktor Orbán.

Dieser idealisierte Westen, dieses auf Christentum, Nationen und Familien aufbauende zivilisatorische Projekt Europas ist, so der Rechtspopulismus, aktuell gefährdet. Er wird angegriffen von einem angeblich exzessiven und zunehmend autoritären Liberalismus und dem Brüsseler Zentralisierungsprojekt. Der Liberalismus, so die Argumentation, hasst alle Traditionen und traditionellen Institutionen; der Brüsseler Bürokratismus die Nationen und die nationalstaatliche Demokratie. Mit einem auf Brüssel zentrierten System wurde eine Ordnung geschaffen, die die demokratische Teilhabe der Bürger entwertet, die Nationalstaaten als Handlungs- und Gestaltungsräume schwächt und die Spielräume von Macht- und Besitzeliten erheblich erweitert.

Das „wahre Europa“?

In einer Rede an der Universität Heidelberg im März 2023 warnte der damalige polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki vor der Gefahr der Entstehung eines europäischen Super-Staates, der von einer „kleinen Elite“ regiert wird. „In der Politik“ so Morawiecki, „geht es immer um Wahlmöglichkeiten. Aber diese Wahl muss an der Wahlurne getroffen werden, nicht im stillen Kämmerlein der Bürokraten. Wollen wir wirklich eine gesamteuropäische kosmopolitische Elite mit immenser Macht, aber ohne Mandat der Wähler?“ Das Ergebnis wäre nicht ein stärkeres, sondern ein schwächeres Europa, das sich selbst seiner Kraftquellen berauben und entsprechend unter seinen Möglichkeiten bleiben würde: „Europa könnte viel erfolgreicher sein, viel größer, viel entwickelter und viel mächtiger als seine heutige Leistungsbilanz“, so Viktor Orbán in einer Rede 2019.

Jede Ideologie ist ein intellektuelles Konstrukt. Der Rechtspopulismus präsentiert sich in seiner aktuellen Spielart als eine Art positiver „Okzidentalismus“. Er projiziert kulturelle, soziale und politische Eigenschaften auf einen idealisierten „Westen“ und ein idealisiertes „wahres“ Europa. Er definiert damit ein kulturelles Eigenes, das es zu bewahren und gegen ein zivilisatorisches Anderes – den modernen Ultra-Liberalismus, die Immigration, den Islam – zu beschützen gilt. Oder wie Meloni es formuliert: „Ich will mich überhaupt nicht von Europa distanzieren, sondern ich will, dass sich Europa nicht von sich selbst distanziert.“

Es braucht eine bessere Erzählung

Die Widersprüche dieses Konstrukts springen ins Auge. Dieser wunderbare „Westen“, dieses idealisierte Europa, bevölkert von friedlichen Nationen und glücklichen Familien, hat nie existiert. Auch die demokratischen Impulse der christlichen Kirchen halten sich seit 2 000 Jahren in eher überschaubaren Grenzen – nach innen wie nach außen. Dennoch sollte man die Kraft der europäischen Identitätserzählung des Rechtspopulismus nicht unterschätzen. In einer Welt, in der sich wirtschaftliche, geopolitische und kulturell-religiöse Gegensätze zunehmend schärfer artikulieren, in der weltweite Migration zunimmt und das Ende der westlichen Hegemonie immer greifbarer wird, dürfte die Attraktivität einer das „Eigene“, die europäische Zivilisation und ihre Werte für sich reklamierenden Identitätspolitik nicht unbedingt geringer werden.

Der Diskurs des Rechtspopulismus knüpft in seinen Kernmotiven – Verteidigung der westlichen Werte, Stärkung Europas – ja durchaus auch an Themen der etablierten Politik an. Auch diese sieht den „European way of live“ als gefährdet an – allerdings aus völlig anderen Gründen als der Rechtspopulismus. Es ist die Aufgabe der Mehrheitspolitik, besser als in der Vergangenheit zu erklären, warum ihre Politikentwürfe die geeigneteren sind, Europas Werte und Interessen zu verteidigen. Vor dem Hintergrund der Wahlergebnisse in vielen Staaten Europas in den letzten Jahren kann der Verdacht geäußert werden, dass die bisherigen Anstrengungen nicht vollständig erfolgreich waren. Mit einer einfachen Etikettierung der Rechtspopulist*innen als „Europafeinde“ wird es vermutlich immer weniger getan sein.

Zuerst erschienen im IPG-Journal.

Autor*in
Ernst Hillebrand

ist Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Budapest. Zuvor war er Referatsleiter der Internationalen Politikanalyse, des Referats für Mittel- und Osteuropa sowie Leiter der Büros in Warschau, Paris, London und Rom.

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1 Kommentar

Gespeichert von Julian Nida-Ruemelin (nicht überprüft) am Fr., 24.05.2024 - 13:50

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ein beachtlich differenzierter Artikel, dessen Kernthesen ich teile. In meinen Worten kann man die linke Identitätspolitik als eine Firm des entgleisten Kommunitarismus verstehen und die rechten Identitäten setzen dem pluralistischen Multikulturalismus von links eine monistische europäische oder nationale Identität entgegen. Sie setzen an der Schwachstelle linker Identitätspolitik an: Wenn kulturelle Identitäten so wichtig sind, warum dann nicht auch die der Mehrheitsbevölkerung oder, wenn es diese nicht mehr gibt, der größten kulturellen Gemeinschaft im demokratischen Staat?