Meinung

Rechtsstaatlichkeit in der EU: Mit Nachdruck gegen Orbán und Co.

Die EU muss das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit stärker in den Fokus stellen und daran auch die Vergabe von Geldern knüpfen, fordert Jens Geier, Vorsitzender der deutschen Gruppe der S&D-Fraktion im Europaparlament.
von Jens Geier · 6. Oktober 2020
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Ist das gemeinsame Vertragsziel der „immer tieferen Integration“ tatsächlich noch das gemeinsame Ziel der 27 EU-Mitgliedstaaten? Ich habe inzwischen große Zweifel: An der Aushöhlung des Rechtsstaats in mehreren ihrer Mitgliedstaaten kann die Europäische Union, wie wir sie kennen, auch zerbrechen. Haben die EU-Länder noch eine gemeinsame Wertebasis? Der aktuelle Streit um einen Mechanismus, der Auszahlung europäischer Gelder an Rechtsstaatsprinzipien koppeln soll, stellt das infrage.

Keine EU-Mittel mehr für korrupte Regierungen

Heute hat die EU keine ausreichenden Mittel, eine Regierung, die die gemeinsamen demokratischen Werte untergräbt, zu sanktionieren. Rechtstaat und Demokratie in Europa zu unterminieren, muss stärkere Konsequenzen haben als Protestnoten. Die finanziellen Mittel der Europäischen Union dürfen nicht mehr an nationalkonservative Regierungen gehen, die europäische Grundsätze zerrütten oder korrupt handeln. Davon gibt es aber leider immer mehr! Dabei reden wir über die Regierungen in Ungarn oder Polen und deren allfällige Versuche des Demokratieabbaus, indem unabhängige Gerichtsbarkeit und freie Medien immer mehr eingeschränkt werden. Über die Regierungen Ungarns, Tschechiens und Bulgariens sind mittlerweile Korruptionsfälle und Bereicherungsversuche bekannt geworden. Die bulgarische Regierung, deren Abgeordnete im Europäischen Parlament, wie Viktor Orbáns Fidesz-Partei, zur christdemokratischen Fraktion gehören, verwandelt den Staat in eine veritable Kleptokratie.

Harte Auseinandersetzungen in zentralen Wertefragen, nicht nur zur Rechtsstaatlichkeit, sondern auch in der Migrationspolitik, sind in der EU nicht mehr außergewöhnlich. Hier entstehen Bruchlinien im Fundament der EU. Die wirtschaftlichen Vereinbarungen über den EU-Binnenmarkt scheinen nur noch der kleinste gemeinsame Nenner zu sein.

Vom Avocado-Europa zum schrumpeligen Apfel

Ein weiteres Problem: In einer wachsenden Zahl von EU-Regierungen ist die Bereitschaft, solidarisch zusammenzuarbeiten und füreinander einzustehen, schwach entwickelt. Das zeigt sich auch beim Streit über die EU-Finanzen: Wenn die niederländische oder die österreichische Regierung auf nationalistische Stimmungen Rücksicht nehmen, ignorieren sie die Vorteile von Investitionen in die wirtschaftliche Erholung des gemeinsamen Euroraums. Die dortigen aktuellen Staatsführungen zeigen keinerlei Bereitschaft, anderen Europäer*innen wirtschaftlich aufzuhelfen – obwohl das insbesondere Exportnationen selber nützt. Unter einigen konservativen oder liberalen Staats- und Regierungschef*innen fehlt es offenbar an Verständnis über das Potential eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes, der auch politisch gemeinsam mehr erreicht. Es fehlt ihnen an Weitsicht und Mut, wie sie die Gründer Europäischen Union verschiedenster politischer Couleur bewiesen haben.

Eine EU der mindestens zwei Geschwindigkeiten haben wir schon: das Avocado-Europa mit dem harten – noch großen Kern – des Euroraums und einer mal mehr mal weniger kraftvollen Gesamt-EU als Fruchtfleisch. Mittlerweile ist ein Szenario möglich, in dem die EU, wie wir sie heute kennen, zu einem schrumpeligen Apfel mit winzigem Kern zerfällt. Der große Teil der Staatengemeinschaft würde auf den gemeinsamen Binnenmarkt zurückfallen, mit schwacher Integration, abgesehen von Regeln für Verbraucherschutz und Umwelt. Eine engere politische Union, wie wir sie heute haben, gäbe es nur noch in einer sehr kleinen Gruppe europäischer Länder. Eine solche Entwicklung ist eine reale Gefahr geworden.

Europa darf nicht auseinanderfallen

Unmöglich wären dann starke Mammut-Vereinbarungen wie ein milliardenschwerer Corona-Aufbaufonds gegen die Krisenfolgen zum Nutzen der gesamten Europäischen Union. Wenn wir als Europäer*innen in Zukunft noch relevanten Einfluss nehmen wollen, politisch oder ökonomisch, dürfen wir nicht auseinanderfallen. Damit unsere Standards wie Demokratie, Gewaltenteilung und unser Wohlfahrtstaatmodell nicht global unter Räder kommen, müssen wir zusammenhalten. Nur gemeinsam können wir globale Herausforderungen stemmen und dabei unsere eigenen europäischen Regeln setzen. Wir Sozialdemokrat*innen im Europäischen Parlament wollen ein nachhaltiges Europa verwirklichen, das Klima schützt, dabei aber auch Wohlstand und neue Arbeitsplätze schafft. Dabei unsere transnationale Demokratie zu stärken, Rechtsstaatlichkeit zu schützen, und Europa sozialer und gerechter zu gestalten, ist unser Antrieb.

Autor*in
Jens Geier

ist Vorsitzender der deutschen Gruppe der S&D-Fraktion im Europaparlament.

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