Kultur

Filmtipp „Schlamassel“: Schatten der Vergangenheit in Ostdeutschland

Was hast du während der Nazi-Zeit gemacht? Eine junge Frau will das Schweigen brechen und stößt damit an Grenzen. Der Film „Schlamassel“ erzählt von komplexen Verhältnissen in Ostdeutschland während der 90er-Jahre.
von ohne Autor · 29. September 2023
Eiszeit in Brandenburg: Johanna (Mareike Beykirch) und ihre Mutter (Lina Wendel) haben wieder mal Streit.
Eiszeit in Brandenburg: Johanna (Mareike Beykirch) und ihre Mutter (Lina Wendel) haben wieder mal Streit.

Ein fast schon beiläufig hingeworfener Satz bringt die Essenz des Filmes auf den Punkt. „Wiederholt sich alles irgendwie“, sagt Johanna. Seit Generationen ziehen sich toxische Beziehungen durch ihre Familie. Bis in die Gegenwart des Jahres 1997. In einer Brandenburger Wohnküche mit dem Charme der Nachwendejahre wird es ihr bewusst. Während sie ihren Gedanken nachhängt, blafft die Schwester wie gewohnt ihren Sohn an und beklagt sich über den Ärger, der ihr tagtäglich widerfährt. Schuld sind immer die anderen. Nichts als Frust, Misstrauen und Selbstsucht. Ein Muster, das uns in „Schlamassel“ des Öfteren begegnet.

Der Tod der Großmutter löst eine Dynamik aus

Johanna will und kann diese Lieb- und Sprachlosigkeit nicht länger schlucken. Aber was tun? Sie hat ohnehin Mühe, ihrem Leben eine Richtung zu geben. Als Praktikantin bei einer Lokalzeitung lebt die 32-Jährige eher schlecht als recht. Allein haust sie in einer ebenso winzigen wie chaotischen Wohnung, in der es im Winter so kalt wird, dass sie im Skianzug schläft. Mit ihrer herrischen Mutter, die nichts von ihrem Lebenswandel hält, ist Johanna zerstritten.

Der von erneutem Familienkrach begleitete Tod der innig geliebten Großmutter löst in ihr eine Dynamik aus, deren Auswirkungen zunächst schwer zu durchschauen sind. Aus Zufall entdeckt sie das Foto einer ehemaligen SS-Aufseherin im Konzentrationslager Ravensbrück. Die Frau auf dem Bild ist ähnlichen Alters wie ihre Oma. Johanna beschließt, Anneliese Deckert zu besuchen und sich von ihr aus ihrem Leben berichten zu lassen.

Menschen im Schwebezustand

Zwischen gestern, heute und morgen: So wie jene Wohnküche mit verschlissenen DDR-Vorhängen und Mikrowelle befinden sich auch die Menschen in einem Schwebezustand. Ein politisches System ist vor ein paar Jahren untergegangen und das neue muss sich in den Augen vieler Charaktere erst noch bewähren. Nicht nur Johanna trägt einige Altlasten mit sich herum. Als Studierende bekam sie es mit dem DDR-Staatsapparat zu tun und wurde dadurch über Jahre aus der Bahn geworfen.

Die Begegnung und den kritischen Austausch mit der früheren KZ-Aufseherin wittert sie als Chance, als Journalistin groß rauszukommen und wieder „dazuzugehören“. Tatsächlich zeitigen die Gespräche mit der dementen Greisin und ihren Töchtern etwas ganz anderes. Johanna wird klar, wie ähnlich Anneliese Deckerts Familie und ihre eigene ticken: Man hört einander nicht zu und will nichts voneinander wissen. Erst durch den Austausch mit einer fremden Familie beginnt sie, ihre eigene zu entziffern. Doch was folgt daraus?

Kein Lehrstück über die Umbrüche in Ostdeutschland

„Schlamassel“ lässt einen frösteln. Die bildgewaltigen Eindrücke einer ländlichen Welt im Winter spiegeln zugleich das Innenleben zentraler Figuren und das gesellschaftliche Miteinander wider. Wenn Johanna mit ihrer Mutter im Trabant über die Landstraße knattert und sich dabei mal wieder beleidigen lässt, schaut man entsetzt auf ein völlig kaputtes Verhältnis.

„Schlamassel“ ist aber nicht als typisches Lehrstück über die Umbrüche in Ostdeutschland während der 90er-Jahre zu verstehen. Im Fokus stehen Johannas Erfahrungen, die weder sie selbst noch das Kinopublikum richtig deuten kann. Der Film verzichtet darauf, alles auszuerzählen und in dieser komplexen Situation Eindeutigkeit vorzugaukeln oder gar Bewertungen vorzunehmen. Vielmehr wirbt Regisseurin Sylke Enders dafür, die Widersprüchlichkeit von Menschen und einer Gesellschaft als solche zu benennen. Dafür nimmt sich ihr Film viel Zeit. Subtiler Humor sorgt dafür, dass der psychologische Ballast des Ganzen erträglich bleibt.

Am Ende erst am Anfang

Dass einen diese Geschichte fesselt, liegt nicht zuletzt an Hauptdarstellerin Mareike Beykirch. Johannas hingeworfene Satzfragmente („Kann ich mal das Auto?“) klingen oft ähnlich schroff wie die Worte der Menschen um sie herum. Doch das Gesicht dieser ebenso rebellischen wie labilen und von verschiedenen Grenzerfahrungen geplagten Frau spricht eine andere Sprache. Es verrät, wie es in ihr arbeitet. Johanna will zuhören. Und steht am Ende dieser Geschichte erst am Anfang.

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