Kultur

Filmtipp „Schattenstunde“: Surreales Drama über den Holocaust

Der christliche Dichter Jochen Klepper ging mit seiner jüdischen Familie in den Tod: Der erschütternde Kinofilm „Schattenstunde“ erzählt von Selbstbehauptung in Zeiten des Nazi-Terrors.
von ohne Autor · 28. Januar 2022
Den Schrecken im Blick: Jochen Klepper (Christoph Kaiser) wählt ein selbstbestimmtes Ende.
Den Schrecken im Blick: Jochen Klepper (Christoph Kaiser) wählt ein selbstbestimmtes Ende.

80 Jahre nach der Wannseekonferenz standen dieser Tage wieder mal NS-Täter im Vordergrund von TV-Dokumentationen. Der Kinofilm „Schattenstunde“ richtet den Blick auf die Opfer der NS-Vernichtungspolitik. Anhand des evangelischen Theologen und Schriftstellers Jochen Klepper, seiner jüdischen Ehefrau Johanna und der ebenfalls jüdischen Stieftochter Renate erleben wir Ausgrenzung und Verfolgung aus nächster Nähe.

Selbstmord aus Angst vor der Deportation

Und auch die Angst vor der drohenden Deportation. Die Handlung setzt im Dezember 1942 ein. Längst rollen tagtäglich Züge mit Menschen jüdischen Glaubens in die Vernichtunsglager im Osten. Auch von Berlin aus. Dort sehen sich Klepper und seine Familie immer näher am Abgrund. Große Hoffnung hatten die drei darin gesetzt, dass wenigstens Renate ausreisen kann. Am 10. Dezenber wird das Gesuch abgelehnt.

Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Renate und Johanna in einen Viehwaggon steigen müssen. In der Nacht zum nächsten Tag nimmt sich die Familie gemeinsam das Leben. So hatten sie es für den Fall der Fälle, der nun eingetreten ist, seit Langem geplant. Damit sind sie nicht allein: Allein in Berlin gab es damals täglich 20 bis 30 jüdische Familienselbstmorde.

Ein Rest von Freiheit und Würde

Gibt es Deprimierenderes als den eigenen Tod zu planen? Oder lässt sich darin auch ein letzter Rest von Freiheit und ein Zeichen von Solidarität, ja von großer Liebe gar, sehen? Klepper, der mit 39 Jahren in den Tod ging, hätte sich auch für den Weg entscheiden können, den ihm Adolf Eichmann, „Judenreferent“ im Reichssicherheitshauptamt, aufzeigt: sich von seiner „nichtarischen“ Ehefrau lossagen und nach jahrelangem Berufsverbot und Arbeitslosigkeit endlch wieder als Autor durchstarten. Nicht nur sein tiefer Glaube hindert ihn daran, sich auf das Angebot einzulassen.

Der Film begleitet die Kleppers während ihrer letzten Stunden. Hoffnungslosigkeit und Zweifel begleiten sie. Währenddessen zieht sich die Schlinge des Terrorapparats immer enger um sie zusammen. Lange wird das Fenster für ein selbstbestmmtes Ende nicht mehr offenstehen, müssen sie befürchten. Der Weg in den Tod wird für die Familie zum Rennen gegen die Zeit.

Verzweiflung und Suche nach Trost

„Schattenstunde“ basiert auf den Tagebüchern von Josef Klepper, der zu einem der  bedeutendsten Dichter von geistlichen Liedern des 20. Jahrhunderts avancierte. Ein Nachbar bewahrte die Schriften auf, nach Kriegsende wurden sie veröffentlicht. Auch an jenem bitteren Tag greift er zum Stift, schaut in einem inneren Monolog auf sein Leben, die jüngsten Erfahrungen mit den NS-Behörden und das nahende Ende. Ringt mit sich und seinem Gott. Will die anderen trösten und ist doch viel zu verzweifelt.

Regisseur und Drehbuchautor Benjamim Martins ließ den Familienvater aber nicht einfach nur bei diesen inneren Prozessen abfilmen. Er erweckte seine Gedanken, Ängste und auch Wahnvorstellungen zum Leben. Für sie schuf er eine zusätzliche, bisweilen surreale Bildebene und griff auf verschiedenste Stilelemente, darunter Marionetten als bedrohlicher Chor, zurück: „Schattenstunde“, 2021 mit dem First Steps Award ausgezeichnet, bricht mit gängigen Sehgewohnheiten, gerade beim Thema NS-Geschichte.

Bilder von einer besseren Welt

Klepper hält Zwiesprache mit einem Dämon. Der sitzt ihm einem Mephisto gleich im Nacken und sät Zweifel. Es gibt Traumbilder von einer Welt weit weg von dieser. Bis plötzlich auch der schlimmste Horror als quälend reale Vision buchstäblich im Raum steht. All das ist, vor allem wohl aus Budgetgründen, technisch nicht immer brillant umgesetzt, aber dennoch sehr wirkungsvoll, gerade auch im Hinblick auf die Dramaturgie.

Die experimentellen Effekte kontrastieren das kammerspielartige Grundwesen dieses klaustrophobischen und in weiten Teilen auf dokumentarische Wahrhaftigleit setzenden Dramas. Und sie erweitern den Rahmen. Mit fortlaufender Zeit wird das schäbige Zimmer, das die Kleppers bewohnen, immer kleiner. Es hat nichts mit dem Zuhause der realen Familie Klepper zu tun, sondern symbolisiert ihre Situation innerhalb der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“.

Emotionale Wucht: Hinsehen und mitfühlen!

Wände, die auf einen zukommen: ein beklemmender Kunstgriff, um auf die ausweglose Lage dieser drei Menschen und ihrer Leidensgenoss*innen hinzuweisen. Diese Perspektive wird auch dadurch unterstrichen, dass der Film nicht im Breitwandformat, sondern in einer wesentlich engeren, quadratischen Variante gezeigt wird. Wir sollen hinsehen und mitfühlen. Um an den Holocaust zu erinnern. Vor allem aber auch, um rassistische Gewalt von heute im Blick zu behalten oder in den Blick zu nehmen. Um wachsam zu sein. Dieser Appell ist überdeutlich und wird dennoch subtil transportiert.

Und zwar mit einer mutigen, mitunter auch gewagten Ästhetik, die keine Scheuklappen kennt. Und mit einer Erzählung, die trotzdem immer dann am stärksten ist, wenn sie den direkten Blick auf drei Menschen am Ende ihres gemeinsamen Weges pflegt. In einer schauspielerischen Tour de Force konfrontiert uns das kleine Ensemble um Hauptdarsteller Christoph Kaiser mit einer enormen emotionalen Wucht.

Drei Menschen, stellvertretend für so viele andere, die damals „leise“ aus dem Leben schieden: An Jochen Klepper und seine Lieben erinnern heute Stolpersteine vor ihrem früheren Haus in Berlin-Nikolassee.

Info: „Schattenstunde“ (Deutschland 2021), ein Film von Benjamin Martins, Kamera: Malte Papenfuß, mit Christoph Kaiser, Beate Krist, Sarah Palarczyk u.a., 79 Minuten, FSK o.A.

https://www.herbsthundfilme.de/schattenstunde

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