Inland

Gas, Kohle, Öl: Was die Zeitenwende in der Energiepolitik bedeutet

Der Überfall auf die Ukraine zeigt, wie abhängig Deutschland von Öl, Gas und Kohle aus Russland ist. Das zu ändern, wird teuer – sich langfristig aber doppelt auszahlen. Die „vorwärts“-Titelgeschichte zur Zeitenwende in der Energiepolitik.
von Kai Doering · 6. Mai 2022
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Ende März lernten die Deutschen einen neuen Begriff kennen. Da rief Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck die Frühwarnstufe des „Notfallplans Gas“ aus. Ein Krisenteam beobachtet und bewertet seitdem die Versorgungslage mit Erdgas. Ab der dritten Stufe könnte die Gruppe bestimmte Verbraucher*innen vom Netz nehmen. Privathaushalte würden dann weiterhin mit Gas versorgt, einzelne Großkund*innen aus der Industrie allerdings keine oder nur reduzierte Lieferungen erhalten. (Auswirkungen, Reihenfolge: Was im Notfallplan Gas steht)

Die Abhängigkeit von Russland

Auch wenn Deutschland von diesem Punkt weit entfernt ist: Der Angriff ­Russlands auf die Ukraine hat nicht nur Auswirkungen auf die militärische Sicherheit Deutschlands. „Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung drei Tage später. „Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Scholz leitet daraus fünf „Handlungsaufträge“ ab. Einer davon: „Mehr tun, um eine sichere Energieversorgung unseres Landes zu gewährleisten.“ Rund die Hälfte des benötigten Erdgases bezieht Deutschland zurzeit aus Russland. Gleiches gilt für die Steinkohle. Bei Öl ist es rund ein Drittel. „Wir werden umsteuern, um unsere Import­unabhängigkeit von einzelnen Energielieferanten zu überwinden“, kündigte Scholz deshalb am 27. Februar an. Kurz darauf reiste Wirtschaftsminister ­Habeck um die Welt, um neue Lieferant*innen aufzutun. Am 26. April kündigte er an, dass Deutschland bereits im Mai unabhängig von russischem Öl sein werde. Am selben Tag verkündete Russland, kein Gas mehr an Polen und Bulgarien zu liefern.

All das zeigt, wie sich innerhalb von ­Wochen jahrzehntelange Überzeugungen verschoben haben. „Die Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland ist zu groß. Das war vielen Entscheidungsträgern auch schon vor dem Überfall auf die Ukraine bewusst“, sagt die Wirtschaftsweise Veronika Grimm. „Aber es gab keinen offensichtlichen Druck, das zu ändern. Das ist nun anders.“ Allerdings gibt Grimm auch zu bedenken, dass es der Politik wohl auch schwer gefallen wäre, den Import von Energieträgern aus anderen Ländern zu begründen. Denn das wäre wohl deutlich teurer geworden als russisches Gas und Öl. Russlands Krieg sei nun „ein unendlich schmerzhafter Weckruf“.

Energie muss bezahlbar sein

Bemerkbar machte sich der sehr schnell an den Zapfsäulen. Preise von deutlich über zwei Euro für einen Liter Benzin machen Pendlerinnen und Pendlern Sorgen, wie sie den Weg zur Arbeit bezahlen sollen. Händler legten die gestiegenen Transportkosten auf die Waren um. In der Folge steigen nun die Preise für Dinge des täglichen Bedarfs ebenso wie für elektronische Geräte. Bei den Heizkosten drohen hohe Nachzahlungen „Die rasant steigenden Energiepreise zeigen, dass eine bezahlbare Energieversorgung Bestandteil von Daseinsvorsorge sein muss wie die Versorgung mit Wasser oder die Müllabfuhr“, sagt deshalb der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Matthias Miersch. Die Energieversorgung dürfe deshalb „nicht allein dem Markt überlassen werden“, fordert er. Mithilfe des Kartellrechts will Miersch gegen Preisabsprachen der Mineralölkonzerne vorgehen. Gleichzeitig begrüßt er die Entlastungspakete der Bundesregierung mit einem Umfang von insgesamt 30 Milliarden Euro. (Wer von den Entlastungspaketen wie profitiert)

Aus Mierschs Sicht macht der Krieg in der Ukraine auch deutlich, „dass viele Themen, die gerne getrennt voneinander gesehen werden, sehr stark zusammenhängen: Klimaschutz, Versorgungssicherheit, aber auch Bezahlbarkeit von Energie und letztlich sozialer Zusammenhalt“. Für den Fraktionsvize ist deshalb klar: „Der Ausbau der Erneuerbaren Energien ist überragend für das öffentliche Interesse, nicht nur, um das Klima zu schützen, sondern auch um eine sichere Energieversorgung zu gewährleisten.“ Denn anders als bei Gas, Öl oder Kohle gewährleisteten Wind und Sonne eine echte Energieunabhängigkeit. „Wir brauchen einen klaren Vorrang zugunsten der Erneuerbaren Energien“, fordert Miersch deshalb.

Beschleunigte Transformation

„Mittelfristig machen wir uns unabhängiger vom Gas, wenn wir die Energiewende schneller vorantreiben“, sagt auch die Wirtschaftsweise Veronika Grimm. Neben dem Ausbau von Wind- und Solaranlagen gehört für sie auch der Import von Wasserstoff dazu. Dafür könnten dann auch Terminals benutzt werden, an denen zunächst Flüssiggas (LNG) von großen Frachtschiffen entladen wird. „Gerade durch den Import von grünem Wasserstoff erschließen wir uns viele mögliche Energielieferanten in aller Welt und eröffnen diesen Staaten Chancen für Wertschöpfung“, ist Grimm überzeugt.

Das ist auch das Ziel von Olaf Scholz. „Das, was nun kurzfristig notwendig ist, lässt sich mit dem verbinden, was langfristig ohnehin gebraucht wird für den Erfolg der Transformation“, sagte der Bundeskanzler in seiner „Zeitenwende“-Rede und kündigte an, schnell zwei Flüssiggas-Terminals im schleswig-holsteinischen Brunsbüttel und im niedersächsischen Wilhelmshaven bauen zu wollen.

Wie die von ihm beschriebene Zeitenwende ausgeht, lässt sich noch nicht sagen. Für die Wirtschaftsweise Veronika Grimm steht jedoch fest: „Im Energiesektor, aber auch in der Industrie, wird sich die Transformation nun massiv beschleunigen.“

 

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