Geschichte

Wie Helmut Schmidt zum ersten Medienkanzler wurde

Helmut Schmidt beherrschte die Kunst der Selbstinszenierung wie kaum ein Zweiter. Doch zugleich war er ein extrem fleißiger und hochkompetenter Politiker, der jedes seiner Ämter mit Bravour führte. Am 23. Dezember wäre er 102 Jahre alt geworden.
von Meik Woyke · 7. Dezember 2019
Foto von Schmidt während des Landtagswahlkampfs in Niedersachsen
Foto von Schmidt während des Landtagswahlkampfs in Niedersachsen

Wenn das Aufnahmesignal einer Fernsehkamera leuchtete oder sich Journalisten und Fotografen im Raum befanden, war Helmut Schmidt stets hellwach und ausgesprochen präsent. Er verstand es meisterhaft, sich zu inszenieren, und bezeichnete sich in der Rückschau zuweilen selbst als einen perfekten „Staatsschauspieler“. Bei seinen Medienauftritten war kein Wort zufällig, geschah jede Geste wohlkalkuliert, nicht zuletzt der ausgiebige Zug an seiner Zigarette. Als ein auf sein Image bedachter Politiker beherrschte er die Technik der bewussten Pause, baute dadurch Spannungsbögen auf und hob ihm besonders Wichtiges hervor.

Angriffslustiger Redner

Dass Schmidt die Kunst der Selbst­darstellung beherrschte und sich auch bei seinen zahlreichen Wahlkampfreden hochprofessionell präsentierte, bedeutet auf keinen Fall, dass seine Politik inhaltlich substanzlos und er nur auf den vordergründigen Effekt aus gewesen sei. Im Gegenteil: An Gründlichkeit beim Aktenstudium ließ sich der studierte Volkswirt von kaum jemandem übertreffen.

Im Jahr 1953 erstmals in den Deutschen Bundestag gewählt, erarbeitete sich Helmut Schmidt über die Fraktionsgrenzen hinweg einen hervorragenden Ruf als Experte für Verteidigungspolitik. Wer Wissenslücken erkennen ließ oder sich nicht auf der Höhe der politischen Diskussion bewegte, wurde von ihm nicht ernst genommen. Dann konnte Schmidt richtig schneidend werden, sein enormes rhetorisches Talent ausspielen. Er war ein angriffslustiger Redner, was ihm während der Bundestagsdebatte über die Atombewaffnung der Bundeswehr im März 1958 den Beinamen „Schmidt Schnauze“ einbrachte.

In den Bundestagswahlkämpfen 1953 und 1957 ließ Helmut Schmidt jeweils ­einen Image-Kurzfilm in den U-Bahn- und S-Bahn-Stationen seines Wahlkreises in Hamburg-Nord vorführen. Mit dieser persönlichkeitszentrierten Werbestrategie gehörte Schmidt zu der Avantgarde seiner Politikergeneration, zumal er auch Einblicke in sein Privatleben gewährte. Deshalb unterstellten ihm seine Kontrahenten außer- und innerhalb der SPD ein übersteigertes Geltungsbedürfnis. Schmidt hatte erfolgreiche Wahlkämpfe in den USA beobachtet und wusste um die Anziehungskraft von Filmen. Zudem sprach er mit dieser innovativen Werbung neue Bevölkerungsgruppen jenseits von klassischen Parteiveranstaltungen an.

Lokale Machtbasis

Der SPD-Kreis Hamburg-Nord, den Helmut Schmidt von 1956 bis 1964 als Vorsitzender führte, bot ihm ein willkommenes Experimentierfeld für die Modernisierung und Professionalisierung der Parteiarbeit vor Ort. Noch vor der Organisationsreform auf Bundesebene (1958) und der Verabschiedung des Godesberger Programms (1959) verstärkten Schmidt und seine Mitstreiter ihre Betriebsarbeit, suchten den Kontakt zur evangelischen und katholischen Kirche und trafen sich mit Angehörigen der Bundeswehr. Da­rüber hinaus verteilten sie im gesamten Kreisgebiet eine kostenlose Unterhaltungsillustrierte, die nur unterschwellig für sozialdemokratische Politik warb und in der gesamten Partei als Erfolgsmodell galt.

Schmidt erwarb mit diesen Reformbestrebungen eine lokale Machtbasis und profilierte sich während der Hamburger Sturmflut im Februar 1962 als zupackender Krisenmanager. Als er im Mai 1966 für das Amt des SPD-Landesvorsitzenden antrat, unterlag er allerdings seinem Gegenkandidaten, dem ehemaligen Bürgermeister Paul Nevermann, in einer Kampfabstimmung.

Unaufhaltsame Karriere

Doch Schmidts politische Karriere konnte dies nicht aufhalten: Er avancierte 1966/67 zum Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, trat im Jahr 1969 als Minister unter Willy Brandt ins erste sozial-liberale Bundeskabinett ein und stieg 1974 schließlich unverhofft zum Kanzler auf. Erinnert sei an die intensiven Debatten über die Notstandsverfassung, die Bundeswehrreform und den NATO-Doppelbeschluss. Mit diesen Reizthemen eng verwoben, machte es Schmidt nach 1945 zu schaffen, dass er als Wehrmachtsoffizier dem NS-Regime gedient hatte. Gleichzeitig stilisierte er das Soldatenleben zu einer „Oase des Unpolitischen“, beschwor die Kameradschaft an der Front. Selbst die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den von der Wehrmacht geführten Vernichtungskrieg gegen die ­Sowjetunion brachten ihn nicht von dieser Einschätzung ab.

Irritieren konnten ebenso seine 2012/13 veröffentlichten Relativierungen der prekären Menschenrechtslage in China. Positive Schlagzeilen bekam er hingegen, als er angesichts der von  2008 an grassierenden Wirtschafts- und Finanzmarktkrise gegen den „Raubtierkapitalismus“ wetterte und die „Zockermentalität“ an den internationalen Börsen anprangerte. Öffentlichkeitswirksam zu sein – das war Schmidt gewohnt.

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Autor*in
Meik Woyke

ist Vorstandsvorsitzender und Geschäftsführer der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung; bis Juni 2019 leitete er das Referat Public History im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er hat im Verlag J.H.W. Dietz Nachf. den Briefwechsel von Willy Brandt und Helmut Schmidt herausgegeben (2015) und für den Reclam Verlag eine kompakte Schmidt-Biografie (2018) geschrieben.

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